Generation Zukunft – engagiert, digital, selbstbestimmt - Regensburg
Was über Jugendliche und junge Erwachsene öffentlich diskutiert und geschrieben wird, ist häufig begleitet von Skepsis. Die Beraterinnen und Berater der Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) Regensburg hingegen sehen große Chancen in der heranwachsenden Generation, die unsere gesellschaftliche Zukunft gestalten wird. Mit dieser Grundhaltung stehen sie an der Seite junger Menschen, begleiten diese und ihre Familien.
KJF-Direktor Michael Eibl stellte das Engagement der in den zehn Beratungsstellen der KJF tätigen Kolleginnen und Kollegen heraus: „Was Sie in den vergangenen krisenhaften Jahren geleistet haben, können wir nicht genug wertschätzen. Sie sind immer nah an den Familien und unterstützen Eltern wie Kinder darin, ihren Alltag, die Schule und viele Herausforderungen mehr zu meistern.“ Im Jubiläumsjahr der Beratungsstellen in Regensburg (70 Jahre) und Straubing (50 Jahre) will Eibl herausstellen: „Erziehungsberatung stärkt Familien. Lasst uns für die Kinder das Beste tun!“, so sein Apell auch an alle in der Jugendhilfe beteiligten Partner und politisch Verantwortlichen.
Bei ihrer diesjährigen Jahrespressekonferenz zogen die Teams der zehn Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern der KJF einmal mehr Bilanz ihrer Arbeit: Trotz der Kriegs- und Krisenherde weltweit, den Nachwirkungen der Corona-Pandemie, gesellschaftlicher Entfremdungs- und Radikalisierungsprozesse sowie den deutlich spürbaren Folgen des Klimawandels sei es wichtiger denn je gerade auch Chancen und positive Veränderungsprozesse der aktuell heranwachsenden Generation in den Mittelpunkt zu rücken. Im Kontrast zur erkennbaren gesellschaftlichen Tendenz der Katastrophisierung und der Wahrnehmung eines apokalyptischen Grundrauschens stellten die Beratungsstellen der KJF zukunftsorientierte Entwicklungsprozesse für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rund um die Frage: „Was braucht die Generation Zukunft?“
Weltweite und regionale Krisen, Kriege und Prozesse des Klimawandels sowie die Auswirkungen einer sehr hohen Inflation und weitere vielfältige Probleme bedrohen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Grundordnung. Sie waren 2023 für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und ihre Familien intensiv zu spüren. Insbesondere für junge Menschen stellen diese permanent auf sie einprasselnden Nachrichten eine Quelle hoher Verunsicherung dar. Aber nicht nur das. Junge Menschen wollen sich einbringen, sich engagieren – laut, stark und mittendrin. Oft bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Resignation. Sowohl die griechische als auch lateinische Bedeutung des Wortursprungs „crisis / „krisis“ zeigt auf, dass es sich dabei um eine akute Phase handelt, in der „eine Entscheidung“ in die eine oder andere Richtung fällt. Wo findet sich Halt angesichts von Terror und unsäglichem Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen? Wem kann ich vertrauen in Zeiten von „fake news“ und Manipulationsmöglichkeiten durch KI? Wie nah ist der große Kollaps, sind wir gar die letzte Generation?
Gerade in der Generation der gegenwärtig Jugendlichen zeigt sich die enorme Doppelbelastung durch diese besonderen Herausforderungen und gleichzeitig individuelle Identitätsfindungs- und Entwicklungsthemen: Wer will ich sein, auf welche Autoritäten höre ich, wie wähle ich Informationen aus einer gigantischen Fülle aus, worauf muss ich verzichten, wenn unser Planet nicht kollabieren soll und wie erlebe ich meine empfundene Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung? In diesen individuell überfordernden Krisen wird für die „Generation Zukunft“ die Resilienz in ihrer Entwicklung entscheidend davon abhängen, wie gut sie sich sozial und medial vom überbordenden Angebot abgrenzen kann. Abgrenzung bedeutet Verzicht und ist meist verbunden mit Unbehagen, Angst vor Ausschluss und weniger vermeintlichem Lustgewinn. Aber sie ist gerade für jugendliche Menschen ein Gradmesser für ihre seelische Gesundheit und ihr Wohlbefinden.
Weiterer Anstieg der Nachfrage im Jahr 2023: Die personellen Kapazitäten hinken dem Beratungsbedarf deutlich hinterher, steigende Wartezeiten sind die Folge.
Der Anteil an vollständigen Familien, die Beratung suchen, nimmt drastisch ab. 2023 wandten sich 5.379 Familien mit Kindern und Jugendlichen zur persönlichen Beratung an eine der zehn Beratungsstellen der KJF bzw. an eine ihrer zusätzlich 18 Außenstellen. Das sind über 8 % mehr Familien als 2022 und gut 19 % mehr als vor zwei Jahren. Die Beratungsstellen haben in diesem Jahr mit 2.016 (37,5 %) beratenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen die heranwachsende Generation sehr gut erreicht und es zeigt sich, dass gerade diese besonders digitale Generation die Beratung vor Ort in den Beratungsstellen weiterhin hervorragend annimmt. Beraterische und therapeutische Prozesse können nicht alleine durch virtuelle Plattformen, Onlineberatungsprozesse oder gar KI-basierte Technologie aufgefangen werden. Mit 39,7 % (2.134) war die Gruppe der sechs- bis elfjährigen Schulkinder die größte Altersgruppe. Eltern von Babys und Kindern bis einschließlich 5 Jahren lagen mit 1.229 Beratungsfällen bei einem Anteil von 22,8 %. Eine besonders starke Veränderung zeigte sich darin, dass im Jahr 2023 mit 53,2 % der Beratungsfälle etwa 10 % mehr der Klientinnen und Klienten eine Trennung der Eltern erlebten als dies im Vorjahr der Fall war (2022: 43,4 %). Der Anteil der vorgestellten Kinder und Jugendlichen, die bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwuchsen, stieg geringfügig von 35,5 % auf 37,3 % an. Neben der Beratung vor Ort stiegen parallel dazu auch die in Anspruch genommenen Onlineberatungen, was gerade für Jugendliche und junge Erwachsene große Bedeutung hat.
Die zehn Beratungsstellen der KJF in der Diözese Regensburg haben eine große Vielfalt individueller und spezifizierter Beratungsangebote für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. Exemplarisch stellten die Beratungsstellenleitungen Hans Kirmer aus Straubing, Dr. Joachim Weiß aus Eggenfelden (Rottal-Inn) und Dr. Simon Meier aus Regensburg bei der Jahrespressekonferenz drei Beratungsangebote für Jugendliche näher vor.
Positive Jugendlichenberatung
Die jungen Leute von heute sind die „mündigen Bürger“ von morgen und es stellt sich mitunter die Frage, was die Jugendhilfe anbieten kann, damit sich junge Menschen sich zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können. Junge Menschen haben oft Probleme und Schwierigkeiten – in der Schule, in der Arbeit, mit Gleichaltrigen, mit Eltern … und … und … Manchmal ist es schwierig, darüber zu reden oder die richtige Ansprechperson zu finden. Manchmal fühlen sie sich sehr allein. „Aber Jugendliche haben auch gute Ideen und vernünftige Lösungsvorschläge, sie können damit anderen und oftmals sich selbst gut helfen und unterstützen“, sagt Hans Kirmer, Leiter der Beratungsstelle Straubing. Dieser Ansatz nennt sich „Positive Peer Counseling (PPC)“ – Positive Jugendlichenberatung. Jugendliche helfen und unterstützen sich gegenseitig. Peer-Beratung ist keine Gruppentherapie, sie ist sehr niederschwellig und freiwillig; als semiprofessionelle Form findet sie ihren Platz zwischen professionellen Beratungsverfahren und alltagsweltlichen Beratungsgesprächen. Der Ansatz ist nicht neu, er wurde in den 1970er Jahren in den USA entwickelt. Dieses pädagogische Konzept lässt sich in verschiedenen Settings – Heimerziehung, betreute Wohnformen, schulischer Kontext, offener Strafvollzug – anwenden und auch sehr gut in einer ambulanten Beratungsstelle umsetzen.
Junge Menschen mit vergleichbaren Problemen können sich besser gegenseitig verstehen und helfen. Hier bietet sich die Möglichkeit des Austausches, für Begegnungen und für die Entwicklung einer förderlichen Beziehung. Sie merken, dass sie sich nicht schämen müssen, weil sie bisher dachten, dass nur sie diese Probleme haben. Denn häufig geht es anderen Jugendlichen genauso. Und Jugendliche sprechen die Sprache von Jugendlichen. Sie können ihre Ideen und Erfahrungen einbringen und sich in aktivem Zuhören in einem geschützten Rahmen erproben. Sie erfahren sich dabei auf positive Weise, wenn sie Hilfeleistungen anbieten oder empfangen. Die Chance der wechselnden Rollen – Ratsuchender, Ratnehmender, Ratgebender – stärkt das Selbstbewusstsein und vermittelt die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. PPC fördert den Aufbau eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gruppe, in der sich der Einzelne als akzeptiert und verstanden erfährt.
Die Moderation dieser Peer-to-Peer-Beratung liegt bei erfahrenen Beratungskräften, die mit wohldosierten Beiträgen den Gruppenprozess in Gang halten und zum Ende hin mit wohlwollenden Rückmeldungen an die Gruppe und Teilnehmer den positiven Prozess unterstützen.
Erlebnispädagogik
Junge Menschen kommen meist gerne in die Beratungsstellen der KJF. Sie erleben das Gesprächssetting und die lösungsorientierte Atmosphäre der Beratungen meist aufbauend und wenig „klinisch“. Diese tendenziell positive und lockere Atmosphäre wird durch gemeinsames Tun noch verstärkt, wie es in der zweiten Hälfte der Termine oftmals praktiziert wird, z. B. in Form von gemeinsamem Werken, Basteln, einer Partie Dart, Kicker oder Billard. Die Beratungen sind dadurch keineswegs weniger effektiv. Ganz im Gegenteil – das Vertrauen zwischen Klienten und Beratern wird gestärkt und der Mut für Veränderungen wächst. Das gilt umso mehr für Gruppentherapien und für erlebnispädagogische Aktivitäten, wie sie besonders an den KJF-Beratungsstellen Rottal-Inn und Cham praktiziert werden. Es finden dabei z. B. Schlauchbootfahrten (Rottal-Inn) oder Kanufahrten (Cham) statt oder Wanderungen, z. B. in recht einsamer winterlich-alpiner Landschaft. Die Teams in den Beratungsstellen verfügen über die entsprechende professionelle Ausrüstung und die erforderlichen Ausbildungen. Vor der Corona-Pandemie hat die Beratungsstelle Rottal-Inn auch regelmäßig mehrtägige Fahrten in Zeltlager bzw. in Selbstversorgerhäuser für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen organisiert. Die Teilnehmenden lernen dabei Verantwortung zu übernehmen und sind gefordert, ihre Ängste zu überwinden, sich auf Neues und Herausforderndes einzulassen. Gerade bei mehrtägigen Aktionen sind zum Teil sogar Entwicklungssprünge zu beobachten. Für manche ist es eine völlig neue, faszinierende Erfahrung, sich den ganzen Tag in der Natur zu bewegen und die positiven Auswirkungen auf die Psyche festzustellen. Außerdem wird die Beratungsbeziehung durch die gemeinsamen Erlebnisse gestärkt. Für die jungen Leute untereinander ergeben sich vielfältige zwischenmenschliche Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten in einem geschützten Rahmen. Oftmals werden neue Freundschaften geschlossen, auch von Jugendlichen, die unter Kontaktarmut litten.
Bei der Pressekonferenz kamen auch die jungen Leute selbst in kurzen Video- und Audioclips zu Wort. Ein Jugendlicher spricht dabei z. B. bei einer Winterwanderung im Februar 2024 darüber, wie er die Beratung und die erlebnisorientierten Aktionen erlebt – vor der Kulisse des Weitsees im sogenannten „Klein-Kanada“.
Beziehungsstörungen langfristig und nachhaltig begleiten: Wer begleitet mich, wenn ich bereits die Grenzen der klinischen Versorgung und der stationären Jugendhilfe erreicht habe? Das Angebot der Beratungsstellen als „Beziehungsanker“ für junge Menschen mit schweren und tiefgreifenden seelischen Beeinträchtigungen und wiederholt erlebtem sozialen Scheitern bzw. Ausschluss.
Junge Menschen in herausfordernden Lebenslagen bzw. im Kontext schwerer psychischer Erkrankungen und ihre Familien erleben Institutionen wie Jugendämter und Kinder- und Jugendpsychiatrien nicht immer als unterstützend und hilfreich. Anregungen von Sorgerechtseingriffen oder freiheitsentziehenden Maßnahmen können sich als möglicherweise „bedrohlich“ für sie darstellen. Der große Vorteil der Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Familien liegt oft darin, dass Hilfen sowohl in der Frequenz als auch im autonomieunterstützenden Rahmen eine echte Niederschwelligkeit darstellen. Gerade jugendhilfe- und therapieerfahrene Klientinnen und Klienten mit tiefgreifenden Beziehungsbeeinträchtigungen und Persönlichkeitsfehlentwicklungen gibt dies häufig die Chance der passenden Balance in der Nähe-Distanzregulierung. Sie finden langfristig, teilweise bis zum Alter von 27 Jahren, eine Beraterin oder einen Berater, die sie im Abstand von mehreren Wochen bei Bedarf begleiten, ihre Gefühle sortiert, Impulse für Entwicklungsprozesse gibt und wo ein „Scheitern“ kaum möglich ist. Auch unabhängig von etwaigen klinisch-stationären Entaktualisierungsprozessen bei akuten seelischen Krisen stehen die Beraterinnen und Berater als hoch kompetente und erfahrene Ansprechpartner zur Seite und können nicht nur im Jugendalter, sondern auch in der so häufig herausfordernden Lebensphase der Adoleszenz langfristig über viele Jahre begleiten. Diese stabilen Beziehungsanker können gerade diesen jungen Menschen Sicherheit und Halt vermitteln, während sie jederzeit selbst die Kontrolle und die Selbstbestimmung bewahren können. Sie erleben sich dadurch nicht mehr so sehr als Spielball von Institutionen, sondern entdecken nach und nach in kleinen Schritten ihren autonomen Entwicklungsraum – oder um es mit den Worten von Max Frisch zu halten: „Die Würde des Menschen besteht in der Wahl.“
Text: Dr. Simon Meier, Regensburg, Dr. Joachim Weiß (Eggenfelden), Hans Kirmer (Straubing)