Zurück Baby auf keinen Fall schreien lassen?

Wie viele Grenzen brauchen Kinder wirklich und wie entstehen Bindungsstörungen? Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg, klärt im Interview mit dem Online-Portal Buzz Feed News auf. 


 

Babys schreien zu lassen, das ist so ziemlich der größte Fehler, den Eltern machen können. Diesen Eindruck erweckt zumindest Social Media. So warnt die TikTokerin @marliesjohanna, die bedürfnisorientierte Elternschaft vorlebt, davor, ein schreiendes Baby „in Todesangst“ alleine zu lassen. Auf Reddit schreibt eine Person, dass ein Kind so Bindungsstörungen entwickle.

Kann das „Schreien lassen“ wirklich Bindungsstörungen hervorrufen? Nein, sagt der Dr, Simon Meier, der 17 Jahre in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig war und heute die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern Regensburg der Katholischen Jugendfürsorge Regensburg leitet. „Für eine Bindungsstörung müssen extrem viele Sicherungen durchbrennen, da hängt die Messlatte im klinischen Bereich ganz weit oben“, sagt er BuzzFeed News Deutschland von IPPEN.MEDIA.

Von einer „Bindungsstörung“ seien etwa vier Prozent aller Kinder und Jugendlichen, die in Kliniken behandelt werden, betroffen. Er warnt davor, den Begriff irreführend zu verwenden. „Wenn sich Eltern mal einen Tag lang weniger um ihr Kind kümmern, löst das keine Bindungsstörung aus. In der Bindungsforschung wissen wir: entscheidend ist, was in 75 Prozent der Fälle passiert. Bindungssysteme sind plastisch, die verzeihen einiges.“

 

Bindungsstörungen: Wann es laut Dr. Simon Meier „sehr gefährlich“ wird

Meist seien die Eltern, die sich die größten Sorgen machen würden, die, bei denen die Gefahr einer Bindungsstörung am geringsten sei. Wirklich gefährdet seien Kinder, deren Eltern sehr jung seien oder aus bildungsfernen, armutsbetroffenen Milieus stammen. Hier würden aggressive Übergriffe oder Misshandlungen häufig aus einer eigenen Hilflosigkeit heraus passieren.

„Der größte Risikofaktor für Bindungsstörungen sind Suchterkrankungen oder schwere seelische, unbehandelte Erkrankungen“, sagt Meier BuzzFeed News Deutschland. Also Krankheiten, die weit über Angstprobleme oder depressive Episoden hinausgingen. Dass Eltern auf Social Media suggerierten, alles außer bedürfnis- und bindungsorientierter Erziehung führe zu Bindungsstörungen, sei „sehr gefährlich“, denn es sei ein „Überproblematisieren“, sagt Meier. Auch dass Eltern in Familienrechtsprozessen das Wort Bindungsstörung verwendeten, um Recht zu bekommen, findet er „hochproblematisch“.

 

Bedürfnisorientierte und bindungsorientierte Erziehung: „Kinder brauchen Grenzen“

Außerdem verwässere bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung laut Meier häufig „wichtige Grenzsetzung“ in der Erziehung. „Das kann dazu führen, dass Eltern ihren Kindern die Führung verweigern“, sagt er. Ein Erziehungsfehler, dessen ungutes Gefühl Erwachsene nur zu gut aus dem Job kennen, wenn ihre Führungskraft nicht richtig anleite.

„Kinder brauchen Grenzen, eine Art Gartenzaun, der ihnen Orientierung und Halt gibt. Wenn Eltern chronisch abdanken und ihre Kinder einfach machen lassen, kann es zu Bindungsdesorganisation kommen.“ Die zeige sich dann zum Beispiel daran, dass Kinder „kontrolliert strafendes Verhalten“ zeigen würden. „Die Kinder werden zu kleinen Tyrannen, bestimmen, wer wo zu sitzen hat, wer was anzieht und schlagen vielleicht auch mal ihre Bindungspersonen“, sagt Meier.

Oder es komme zu einer Rollenumkehr, die Kinder kümmerten sich um die Eltern, so wie in Harpe Kerkelings Buch „Der Junge muss an die frische Luft“. Oft würden Kinder in solchen Fällen zum „Sorgensack“ für andere und hätten ihre Antennen das ganze Leben lang „eher im Außen“, entwickelten ein „schlechtes eigenes emotionales Bewusstsein.“

 

Bindungsforscher verrät, wie Eltern ein „sicheres Bindungsmuster“ aufbauen können

„Ein sicheres Bindungsmuster ist der Schutzfaktor, der Kinder langfristig vor psychischen Erkrankungen bewahren kann“, sagt Meier BuzzFeed News Deutschland. Es entsteht, wenn Eltern auf ihre Intuition hören und ihr Kind dann unterstützen, wenn es traurig ist, es aber auch mal alleine lassen, wenn es zum Beispiel nur wütend ist. „Ärger muss nicht getröstet werden, ihn können schon kleine Kinder relativ gut regulieren“, sagt Meier.

Je nach Alter müsse man den Kindern zumuten, ihre Bedürfnisse selbst zu befriedigen, kritisiert er bedürfnis- und bindungsorientierte Erziehung. Natürlich bräuchten Neugeborene mehr Bedürfnisbefriedigung. „Aber auch da ist es möglich, ein Kind ein paar Minuten alleine schreien zu lassen, ohne dass dies zu traumatischen Folgen führt“, sagt der Bindungsforscher.

Auch Eltern hätten schließlich Bedürfnisse. „Bedürfnisse stehen immer in Konkurrenz zueinander. Kinder müssen lernen, dass sie nicht alleine auf diesem Planeten sind und ihre Bedürfnisse auch manchmal aufschieben müssen“, sagt er. Deswegen sei das Grenzen setzen auch so wichtig, damit Kinder nicht zu Egoisten würden und später in der Lage sind, gute Beziehungen zu anderen aufzubauen.

Text: Jana Stäbener

Der Artikel ist erschienen bei Buzz Feed News und hier abrufbar. 

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.