Ferienzeit ist Medienzeit - Regensburg
Mit Sorge beobachten KJF-Direktor Michael Eibl und Fachkräfte in den Einrichtungen der Katholischen Jugendfürsorge (KJF) der Diözese Regensburg, wie insbesondere junge Menschen Soziale Medien nutzen und sich deren persönliche Beziehungen verändern. Junge Menschen sind hier einem hohen Risiko ausgesetzt. Psychische Belastungen, Cybermobbing und die Verbreitung falscher Informationen sind einige der Herausforderungen, mit denen Eltern und auch Pädagoginnen und Pädagogen im Jugendhilfesystem konfrontiert sind.
Wie sich die Situation aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere aus der der Experten in der Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche und Eltern in der KJF darstellt, beleuchten neben Beratungsstellenleiter Dr. Simon Meier, Psychologe, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, ein ausgewiesener Experte in Erziehungsfragen, KJF-Direktor Michael Eibl und Abteilungsleiter Kinder- und Jugendhilfe Michael Hösl. Sie weisen auf entwicklungspsychologische Aspekte und pädagogische Herausforderungen hin. Sie möchten Familien und die breite Öffentlichkeit sensibilisieren und Hilfestellungen geben.
„Unsere Beratungsstellen beschäftigen sich intensiv mit der Thematik“, erklärt KJF-Direktor Michael Eibl, „wir fragen uns, was passiert eigentlich mit unseren Kindern und den Familien in unserer Gesellschaft? Wie nutzen diese Social Media und wie wirkt sich die Nutzung aus?“ In den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen der KJF ist ein wichtiges Anliegen der Medienpädagogik, die jungen Menschen an die Medien heranzuführen. „Wir beobachten eine zunehmende Egozentrik in den Sozialen Medien“, führt Eibl weiter aus, „es gibt immer mehr Selfie-Könige. Kinder lernen, wenn du dich nicht produzierst, bist du nicht mehr dabei.“ Er stellt heraus, für wie wichtig er das Thema hält: „Hier ist unsere Politik gefordert, wenn es um die Prävention geht.“
Ferienzeit ist Medienzeit
In den Ferien muss der sonst durch Schule oder KITA strukturierte Tagesablauf in den Familien alternativ gestaltet werden. Was für die einen Urlaub ist, ist in Familien Zeit, in der Kinder betreut und beschäftigt werden müssen. Für viele eine Herausforderung und nicht selten mit Mediennutzung verbunden. Allgemein betrachtet, bietet sie in ihrer ganzen Bandbreite auch Sinnvolles: Man kann programmieren, recherchieren, etwas für die Schule vorbereiten oder sich mit anderen austauschen und vernetzen etwa in der Vereinsarbeit oder zur Pflege von Hobbies. Das will Dr. Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern nicht unerwähnt lassen. „Es gibt aber auch eine ganz große Bandbreite von Konsum zum Beispiel bei der Spielenutzung, die schon im Kindergartenalter beginnt. Hier gibt es Spiele, die eigens für Drei- bis Vierjährige programmiert werden“, erklärt er. Ein extremes Beispiel sei eine Smartphone-Halterung an der Babyschale. Ressourcenschwache Eltern beträfe diese Thematik öfter – das schlägt in den Beratungsstellen auf.
Meier berichtet weiter: Mädchen nutzen häufiger digitale Medien als Buben. Die Apps gaukeln eine soziale Verbundenheit vor und sind so programmiert, dass Belohnungszentren aktiviert werden. Gleichzeitig führt eine intensive Nutzung zu Überreizung und Gereiztheit. Eine Überstimulierung tritt bei kleinen Kindern viel früher ein. Gemeinsam geteilte Familienzeit wird weniger und mit steigender Bildschirmzeit verpassen die Kinder Realität, die Analogie des Lebens. Wenn die Eltern selbst ihr Smartphone nehr als das Kind im Blick haben, so ist das mit weiteren Risiken verbunden: „Wir haben eine drastische Zunahme an Unfällen an Spielplätzen oder Badeseen.“
Wer berät in Erziehungsfragen?
Millionen von Followern auf Instagram und TikTok lassen sich von Mumfluencern lieber beraten als professionelle Hilfe in Beratungsstellen zu suchen. Dies sieht Dr. Simon Meier kritisch, denn Mumfluencer verknüpften ihre Form der Beratung, die meistens nur eine Meinung sei – keine Expertise – mit einer Homestory, einer Kunstwelt, in der alles schön ausschaut. Eltern, die hier nicht unterscheiden und entscheiden können, würden verunsichert, so Meier. Es seien alle Gesellschaftsschichten auf unterschiedliche Weise betroffen. So würden etwa in prekären Verhältnissen lebende Ein-Eltern-Familien lieber auf Sozialen Medien nachschauen als eine Beratungsstelle aufsuchen. „Je mehr hinreichend gute Eltern mit Informationen, Meinungen und angeblicher Expertise bombardiert werden, desto mehr wird Verwirrung gestiftet und intuitiv Gutes untergraben“, sagt Meier. Betroffen sind überwiegend Frauen.
Das große Problem in der Nutzung Sozialer Medien stellen die Pole Freiheitsanspruch des Einzelnen und Leben in einem sozialen Rahmen dar. Soziale Medien gaukeln eine Verbundenheit vor. Freundschaft allerdings ist etwas Anderes. Sie zeichnet sich durch Wechselseitigkeit aus und wenn es einem schlecht geht, dann ist ein Freund oder eine Freundin für einen da. Bei individuellen Bedürfnissen kann man darauf zurückgreifen.
Informieren, Grenzen setzen und schützen
„Wie nutzen wir selbst Soziale Medien? Wie können wir Vorbilder für die jungen Menschen sein?“, diese Fragen stellt sich KJF-Direktor Michael Eibl für die KJF. Er berichtet von Podcasts der KJF und des Landesverbands katholischer Einrichtungen (LVkE), dessen Vorsitzender er ist, zur Gewaltprävention. „Wir werden selbst aktiv, unter anderem auch mit Instagram-Kampagnen zur Personalgewinnung. Wir gehen hier vorbildlich rein und wollen unsere Zielgruppen dort erreichen, wo sie sich aufhalten. Und wir sind nicht mit dem erhobenen Zeigefinger unterwegs.“ Abteilungsleiter Michael Hösl informiert über die Arbeit der Medienpädagoginnen und -pädagogen in den Jugendhilfeeinrichtungen der KJF: „Dort wird mit den Jugendlichen die Nutzung Sozialer Medien reflektiert. Ein wichtiges Thema ist die Unterscheidung seriöser Inhalte von extremistischen Inhalten.“
„Wir müssen bei den Kindern ansetzen“, stellt Dr. Simon Meier heraus. „Ein großes Problem ist, dass manche Eltern beim Thema Mediennutzung komplett abdanken.“ Kinder könnten sich in ihrem Medienkonsum jedoch nicht ausreichend selbst steuern. Aus entwicklungspsychologischer Sicht sei es sehr wichtig, dass der Erwerb von Medienkompetenz gefördert und engmaschig begleitet wird. Medienkompetenz ist ein wichtiges Thema in der späten Kindheit und im Jugendalter. Bei kleinen Kindern sind die kognitiven Entwicklungsvoraussetzungen noch nicht vorhanden. Die mediale Erziehung von Kindern im Alter von 0 bis 4 Jahren hat noch keine Bedeutung. In diesem Alter steht die Förderung von digitalfreier Zeit im Mittelpunkt. Danach, in der mittleren Kindheit, im Alter zwischen 5 und 8 Jahren, so Meier weiter, gehe es vor allem um klare Strukturen, Grenzen und Vorgaben, was Inhalte und maximale Dauer des Medienkonsums betrifft. „Wichtig ist hierbei, dass die tägliche Bildschirmzeit eine Stunde nicht überschreiten sollte, auch nicht am Wochenende. Die Eltern sollten hier kontrollieren und nachfragen, welche Inhalte konsumiert werden. Der Zugang zum offenen Internet, ohne Beschränkungen und Voreinstellungen stellt in diesem Alter eine Gefahr für die seelische Entwicklung und das Kindeswohl dar“, stellt Meier deutlich heraus.
Gefahren der Mediennutzung
In der späten Kindheit, im Alter von 9 bis 12 Jahren, lauerten bei der Mediennutzung aktuell die größten Gefahren. Eine maximale Dauer der Bildschirmzeit sollte 90 Minuten pro Tag nicht überschreiten, rät Meier, gerade auch um ausreichend soziale Kontakte zu erleben. Psychische Probleme in Folge von Einsamkeitserleben und sozialer Unverbundenheit beginnen in dieser Lebensphase der Vorpubertät. Einen weiteren Aspekt erwähnt der Psychologe: Der durchschnittliche Erstkontakt mit Pornographie erfolgt derzeit in Deutschland mit etwa 10 Jahren, was drastische Folgen für die psychosexuelle Entwicklung der Kinder mit sich bringt. Gerade Kinder mit mangelnder Beaufsichtigung und Grenzsetzungen konsumieren in diesem Alter vermehrt inadäquate Inhalte und sind besonders leicht verführbar für extremistische Inhalte. Soziale Medien wie TikTok manipulieren unterschwellig und lassen schrittweise durch ihre Algorithmen entsprechende Inhalte einfließen.
Auch die Dauer von Reels auf Instagram oder TikTok präge die Aufmerksamkeitsspanne. So fällt es Kindern und Jugendlichen mittlerweile häufig extrem schwer, einem 90-minütigen Spielfilm noch inhaltlich folgen zu können, da die Aufmerksamkeitsspanne sehr kurz ist und Inhalte hochgradig verdichtet werden. Meier stellt heraus, dass die Nutzung Sozialer Medien aus entwicklungspsychologischer Sicht erst ab einem Alter von 11 Jahren schrittweise mit der Nutzung von Messengerdiensten vermittelt werden sollte und auch da nur unter elterlicher Kontrolle und klaren Zeitvorgaben. Wichtiger Teil der Medienkompetenz in diesem Alter sei die Unterstützung der Kinder beim sinnvollen Einsatz des Internets, etwa für Recherchen zu Referaten oder im Kontext eines Engagements in Vereinen zur Gestaltung von Plakaten oder Ähnlichem. Eine zunehmend kritische Prüfung der Medieninhalte sollte dann im Jugendalter unterstützt und gefördert werden. Hier sind neben den Eltern die Schulen, Kirchen und Vereine besonders gefordert. Zu vermitteln gilt es: Inhalte können falsch sein, wie finde ich das heraus? Welche Autoritäten haben Bedeutung und wie kann ich diese hinterfragen oder herausfordern?
Aus entwicklungspsychologischer Sicht sinnvolle Maßnahmen
Dr. Simon Meier benennt ein Alter von 14 Jahren als sinnvoll für die Nutzung Sozialer Medien – allerdings unter Anleitung und Begrenzung. Für Eltern stehen die Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Eltern der KJF als Ansprechpartnerinnen zur Verfügung, um Expertise zum Bereich Mediennutzung zur Verfügung zu stellen, sowohl in der Präventionsarbeit als auch in der Einzelfallberatung.
Das Handyverbot an Grundschulen beurteilt Meier aus entwicklungspsychologischer Sicht als richtig und erforderlich. Im Bereich der weiterführenden Schulen sei es sinnvoll und notwendig eine schrittweise Freigabe zu ermöglichen, um den Umgang damit zu lernen. Medienfreie Zeiten sollen gerade im Jugendalter nicht nur ausschließlich vorgegeben werden, sondern in dosierter Weise auch von Jugendlichen entschieden werden können. Jugendliche können ein Abgrenzungsverhalten von Medien nur lernen, wenn sie Medien potentiell nutzen können, es aber aufgrund eigener Überlegungen und eigenen Gründen explizit nicht tun. „Ab dieser Stelle in der Entwicklung beginnt dann tatsächlich Medienkompetenz“, stellt Meier heraus.
Politik bitte mit ins Boot!
KJF-Direktor Michael Eibl fordert mehr politische Beteiligung in der Präventionsarbeit und Finanzierung entsprechender Maßnahmen – auch die Vorbildfunktion von Politikern und Politikerinnen, die sich in den Sozialen Medien präsentieren, sei ein Thema. Als eine Chance für die Medienpädagogik betrachtet er den Ausbau der Ganztagsschule bis 2026: „Wie wird dieser Nachmittag pädagogisch sinnvoll gefüllt? Das ist doch eine Chance für die Medienpädagogik!“, so Eibl. Für ihn sind die Sozialen Medien ein Thema, das nicht nur die Schule und Eltern betrifft. „Hier sind wirklich alle gefordert! Und es ist 5 vor 12. Wir haben aktuelle Herausforderungen und wenn wir nur zuschauen, das sage ich in aller Deutlichkeit, werden wir scheitern. Die zunehmenden Zahlen in unseren Beratungsstellen und Jugendhilfeeinrichtungen zeigen es.“ Eibl möchte mit der KJF intensiv in das Thema einsteigen, sensibilisieren, aufklären und die Präventionsarbeit verstärken. „Ich erwarte von der Politik, dass sie sich mit Experten berät. Es geht doch darum, wie wir mit den Kindern umgehen, sie und ihre Familien fördern.“ Meier fügt hinzu: „Wir müssen Forschung und Expertise annehmen und daraus in den Schutz eintreten. Es wird sehr teuer, wenn wir das Thema ignorieren. Und deshalb ist es wichtig, dass es in den Familien von den Eltern erst genommen wird, aber auch gesellschaftlich und politisch!“
Text: Christine Allgeyer